Die Pest

Da ist sie - oder worum kann es sich sonst handeln, wenn die kritische Masse für Veranstaltungen mit einem Schlag von 1000 auf 150 Personen heruntergebrochen wird? Es ist ein schrilles Alarmsignal, und nun muss die Kultur mit der Gesundheit verhandeln, ob sie noch tolerierbar ist. Sind 180 Plätze in einem Theater zu verantworten, muss man 30 Besucher wieder rausschmeissen oder überhaupt nur soviel Sitze verkaufen, dass dazwischen 2 Meter Abstand bleiben? Von allen Seiten trudeln jetzt Corona-Informationen auf den Bildschirm mit dem beschwörenden Grundtenor "Unsere Veranstaltungen finden statt", die kleinen Theater sind plötzlich stolz darauf, dass sie so klein sind, 60 Plätze sind wie eine Garantie für ein seuchenfreies Gebiet. Wer neben einem trotzdem hustet, tut es hoffentlich in die Armbeuge. 
Aber es ist auch ein Angstsignal. Viele Menschen entscheiden sich nach diesem bundesrätlichen Trompetenstoss selber und eigenverantwortlich für den Rückzug. Auf der Strasse habe ich Christoph Homberger getroffen, der mir erzählte, dass fast alle Konzertzuhörer von "Hombi's Salon", dieser wunderbaren kleinen Kulturinsel in den Wohnsteppen von Zürich Nord, ihre Reservationen wieder rückgängig gemacht haben, selbst Geburtstagsfeste, für die er die Räumlichkeiten vermietete, wurden abgesagt. Das Wort "ratlos" fiel, und sein Satz "Jetz putzt's mi de" war ernst gemeint.
Der alte Witz "Bei uns ist das von Kanton zu Kanton verschieden" kommt einem in den Sinn, wenn man hört, wie auf den neuen Richtwert reagiert wird, der eigentlich als gesamtschweizerische Lageberuhigung gedacht war. Aus St. Gallen sieht man Bilder von Männern in Zivilschutzuniformen, die telefonisch Beratungen zu Konzerten und Theaterabenden erteilen, Basel lässt sich in Formularen Details über Räume und erwartete Besucherstrukturen vorlegen, während Zürich jeden Eingriff als zu kompliziert ablehnt. Im Kanton Solothurn sind Anlässe ab 100 Personen bewilligungspflichtig, Chur zieht die Grenze schon bei 50. Ökumenische Suppentage sind ebenso unter Generalverdacht wie Altersnachmittage. Eben habe ich noch bei den Senioren in Fällanden gelesen. Jetzt wird den über 65-jährigen empfohlen, überhaupt keine Veranstaltungen mehr zu besuchen. Da werden sich viele Säle lichten, wenn ich an die grosse Zahl von Weissköpfen denke, welche unser Kulturpublikum ausmachen. Ob die über 65-jährigen noch auftreten dürfen? Vielleicht muss ich meine nächste Lesung mit Mundschutz machen.
Die Todesrate in der Schweiz ist, verglichen mit Italien, minim, in Deutschland ebenso, bis Freitag Mittag noch bei null, doch die Leipziger Buchmesse ist abgesagt und schenkt mir ein paar freie Tage. Die Experten widersprechen sich in der Einschätzung der Gefahr, aber ich weiss nun, dass ich zu einer Risikogruppe gehöre, und auf einmal ist nichts mehr selbstverständlich. Wir beginnen uns selbst zu misstrauen, sogar Tram und Bus scheinen mir weniger voll als gewöhnlich, eine Stadtfahrt ist schon fast eine Reise. Im Tram schaue ich, ob die Sitze vor den Wagengelenken frei sind, dort ist die Distanz zu den nächsten Passagieren am grössten. Ich grüsse nur noch asiatisch, mit einer kleinen Verbeugung und gefalteten Händen. Für den Ellbogengruss ist das Wort "Ebola bump" im Umlauf. Unser ganzer Normalbetrieb ist in Frage gestellt, als lebten wir in Kriegszeiten. Eigentlich sind wir alle schon infiziert, infiziert von der Furcht vor einer Infektion.
Wer sein Haus nicht mehr verlässt und auf Kulturveranstaltungen verzichtet, könnte vielleicht statt dessen ein paar Bücher lesen, gerade bietet eine Buchhandlung einen "virenfreien Bücherversand" an; ich würde einige Werke empfehlen, in denen die Seuchen eine Rolle spielen, "Die Verlobten" von Manzoni mit der grandiosen Schilderung der Pest in Mailand, ja, in Mailand, oder "La Peste" von Camus, die mit dem Tod einer Ratte beginnt, oder den ewig schönen "Decamerone" von Boccaccio, wo sich einige Menschen auf ein abgelegenes Landgut zurückziehen, um der Pest in der Stadt zu entgehen, und die Zeit damit zubringen, sich erotische Geschichten zu erzählen. Vielleicht würden wir dann etwas weniger erschrecken - oder eher mehr? - vor einem Virus, das nichts Neues ist, sondern sich einfach in die lange Kette der Krankheitserreger einreiht, welche die Menschheit seit Jahrhunderten begleiten.
Und heute Abend gehe ich ins Theater.



aus "NZZ am Sonntag", 8. März 2020