Ansprache zur Eröffnung Ausstellung über Leben und Werk
Olten 5.5.2023

Liebe Familie, liebe Grossfamilie,
liebe Laudatoren Thomas Marbach und Moritz Leuenberger,

                                                       
Nun wird es ernst.

Die Urheberrechtsgesellschaft
von welcher du eine Rente bekommst
verlangt
einen "Lebensnachweis" von dir.

Das schraffierte Feld
auf deinem Audiotest
bedeutet einen Verlust
von 54% des Gehörs
im Hochtonbereich.

Die Treppen werden
auf einmal steiler
der Atem flacher.

181 cm sei deine Grösse
sagt dir die Arztgehilfin.
Im Pass steht 183
und als junger Mann
massest du 1 Meter 89
das heisst wohl
du schrumpfst.

Du bist nicht mehr sicher
schreibt man 80 mit oder ohne t
und Nonsens
mit oder ohne e am Schluss?
Heisst das Mittel gegen die Rückenschmerzen
Neopren oder Novalgin?

Willst du wirklich noch lernen
wie man mit "Twint" bezahlt?

Deine Finger erinnern sich zwar
an die Solosuiten für Cello
von Johann Sebastian Bach
aber nicht mehr
an das Binden
einer Krawatte.

Du musst medizinische Ausdrücke
anprobieren
wie Kleider
"Orthostatischer Schwindel"
sitzt wie angegossen.
"Subdurales Hämatom"
legst du wieder beiseite.

Das Durchschnittsalter für Männer
so lasest du kürzlich
liegt hierzulande bei 81.
Du kannst nur hoffen
die 1 sei noch steigerungsfähig.

Trinken, trinken, trinken!
Schon länger ist es für dich
zur Gewohnheit geworden
von jedem Brunnen
an dem du vorbeikommst
drei Schlucke Wasser zu trinken.

Du bist noch über richtige Gletscher gegangen
und weisst
ihre Tage sind gezählt
und auch dein eigener Klimawandel
ist nicht aufzuhalten.

Dein Vorrat an Zukunft
schmilzt und schmilzt und schmilzt
und die Enkelkinder
wachsen und wachsen.


Soviel zur Befindlichkeit des Jubilars, ein Wort, das ich bisher immer ironisch brauchte. Jetzt aber merke ich: 80 Werden ist ein Hauptberuf. Dass mich Olten ausstellt, rührt mich, und ich danke allen, die daran beteiligt waren und sind, für ihre grosse Arbeit. Ein Dank auch den Künstlerinnen und Künstlern, die ein Werk für mich in das Kunstmuseum gebracht haben, und damit auf ihre Art an mich dachten. Da ich für einige unter Ihnen so etwas wie eine wandelnde Kindheitserinnerung bin (Franz und René - I säge nüt!), möchte ich Ihnen etwas über meine eigene Kindheit in dieser Stadt erzählen.                                    

Es gab keine grossen Reisen, als ich ein Kind war. Einmal fuhr uns unser Onkel mit dem Auto ins Elsass, da waren wir also in Frankreich, im Ausland, und sahen mit Schaudern die Einschusslöcher in den Häusern von Mulhouse, wo 10 Jahre zuvor noch Krieg war und Menschen aufeinander geschossen hatten, um sich zu töten.
Der Krieg faszinierte mich. Ich konnte mich lange vertiefen in ein grossformatiges sechsbändiges Werk, das unter dem Titel "Das grosse Weltgeschehen" während des zweiten Weltkrieges Jahr für Jahr erschienen war und in der Bibliothek meines Vaters stand.
Mein schweizerisches Geschichtsbild war ungetrübt. Es war ganz klar, dass ich zu einem Heldenvolk gehörte, das sich von Morgarten bis St.Jakob an der Birs froh noch im Todesstreich auf jeden Feind gestürzt hatte. Das Bild wurde genährt von unserm Primarlehrer, der uns mit Begeisterung von den alten Eidgenossen und ihrem unbändigen Freiheitsdurst erzählte. Als in der "Schweizer Jugend" ein Buch mit dem Titel "36 Bilder zur Schweizer Geschichte" angekündigt wurde, ging ich fast täglich in die Buchhandlung Schreiber, um zu fragen, ob es schon erschienen sei, hatte auch schon erspartes Taschengeld bei mir, um es zu kaufen, und war dann sehr enttäuscht, als es sich bei den Bildern bloss um schematische Darstellungen handelte; es waren eine Art Organigramme der alten Eidgenossenschaft, vor und nach der Tagsatzung, unter fremden Kronen waren dicke Pfeile gezeichnet, welche sich gegen die Schweiz richteten, aber keine einzige Darstellung einer Schlacht war da zu sehen, und darauf hatte ich doch gehofft, und so begann ich selbst Schlachten zu zeichnen. Ich malte den Mädchen, die mir ihr Album gaben, um mich darin zu verewigen, sterbende Krieger, die sich mit aufgerissenem Mund einen Pfeil aus der Brust rissen, und war ganz erstaunt, als mich meine Mutter fragte, ob ich glaube, die Mädchen hätten Freude daran. Selbstverständlich glaubte ich das. Ich glaubte überhaupt, die Mädchen hätten Freude an mir, denn ich hatte auch Freude an den Mädchen, die mir als grosse und geheimnisvolle Bereicherung der männlichen Welt vorkamen.
Die männliche Welt, das waren Indianerspiele, die wir im nahen Säliwald veranstalteten, oder Fussballwettkämpfe, die wir nach der Schule auf dem Sportplatz neben der Friedenskirche austrugen. Wenn man Glück hatte, schauten die Mädchen dabei zu. Wer eines von ihnen als Schulschatz wollte, musste eine Botin organisieren, die mit einer entsprechenden Anfrage zum ersehnten Mädchen ging. Wurde die Anfrage positiv beantwortet, wussten alle, dass man nun miteinander ging. Was sich in den Herzen zutrug, war einigermassen klar; schwerer durchschaubar allerdings, was sich genau in den Unterleibern abspielte, da kursierten die verschiedensten Gerüchte. Einmal bekam ich ein Aufklärungsbüchlein in die Hand gedrückt mit dem Titel "Du sollst es wissen", es war eine ähnliche Enttäuschung wie die Schweizer Geschichte in 36 Bildern, nichts wurde gezeigt, man wusste gar nichts danach, noch heute staune ich über die Frechheit der Autoren, so etwas als Aufklärung auszugeben. Zum Glück fand ich dann einmal, spät genug, auf dem obersten Regal der elterlichen Bibliothek in der zweiten Reihe das Buch "Unser Geschlechtsleben". Damit war eine Lücke geschlossen, aber zugleich eine neue aufgetan, denn das Gelesene wollte ja nun auch irgendeinmal erlebt werden.
Doch da lauerten die Regeln und Normen einer rigiden Welt, die mit dem unbändigen Freiheitsdurst der alten Eidgenossen nicht im Einklang standen. Einer meiner ersten Schulschätze war ein Mädchen, das zwar eine Mutter hatte, aber vom Vater trafen nur ab und zu Postkarten ein. Erst später erfuhr ich, dass die Mutter, gelernte Kindergärtnerin, sich mit besten Qualifikationen für eine Stelle beworben hatte, die sie aber nicht bekam, weil sie ein uneheliches Kind hatte. Ich erfuhr überhaupt Vieles erst später.
Dass gleichaltrige Kinder unter der Bezeichnung "Verdingkinder" als Sklaven gehalten wurden, wusste ich nicht, obwohl einer meiner Grossväter selbst ein Verdingkind gewesen war. Dass gleichaltrige Kinder ihren Familien weggenommen wurden und unter der Bezeichnung "Kinder der Landstrasse" ins Elend einer Heim- und Anstaltskarriere gestossen wurden, wusste ich nicht, ich wusste nur, dass "Pro Juventute", die dafür verantwortlich war, "Für die Jugend" heisst, und dass wir ihre Briefmarken an den Haustüren verkaufen durften, oder mussten, denn dahinter steckten feste Werte, an denen es nichts zu rütteln gab. Dass die Hälfte der Erwachsenen weder abstimmen noch sich in ein politisches Amt wählen lassen konnte, erscheint mir rückblickend als unglaubhaft. Es war aber so. Ich wuchs, so scheint mir manchmal, in einer düsteren Zeit auf, ohne es zu merken.
Mir selbst ging es gut in dieser Zeit. Ich hatte das Glück, in einem Haus aufzuwachsen, in dem Kultur nicht verehrt, sondern gelebt wurde. Mein Vater, zu dem halb Olten in die Schule ging, hatte eine grosse Bibliothek, las uns an Ostern den "Osterspaziergang" aus Goethes "Faust" vor, oder Johann Peter Hebels alemannisches Weltgedicht "Die Vergänglichkeit", oder in den Ferien Ludwig Thomas Lausbubengeschichten, er stellte in der "Theaterzeitung" die Stücke vor, die in Olten gespielt wurden und spielte selber Theater, und die Mutter brachte die Musik in unsere Familie. Ich konnte ein Instrument lernen, das Cello, das sich mein Grossvater (das ehemalige Verdingkind) erworben hatte, in der Hoffnung, es zu erlernen, um dann zu erfahren, dass seine Finger dafür zu klein waren. Ich ging ins Progymnasium und lernte mit Leichtigkeit Sätze wie "milites fortiter pugnabant", "Die Soldaten kämpften tapfer", ich schrieb Verse für die bunten Abende unserer Skilager, ich spielte Theater, gab in der Dramatischen Gesellschaft in Thornton Wilders Einakter "Glückliche Reise" den etwas vorwitzigen Buben in einem Matrosenanzug, ich beschloss als Zwölfjähriger, alles gut und interessant zu finden und wurde gleich danach schwer krank, und ich glaube, ich habe die Krankheit nur überlebt, weil ich den Aufenthalt im Kinderspital Zürich gut und interessant fand, ich befand mich wohl auf einer glücklichen Reise.
Ein wichtiger Bote des Lebens war der Radioapparat mit dem grünen Auge und der Skala, die mit dem rätselhaften Ort "Hilversum" begann, und vor dem wir abends mit heissen Backen die unheimlichen Sendungen "Verzell du das im Fährima" hörten, oder die Krimireihe "Mein Name ist Paul Cox" oder die berndeutschen Gotthelf-Hörspiele "Ueli der Knecht", die mich später zu meinem "bärndütsche Gschichtli" inspirierten, oder am Samstag die bunten Abende aus dem Bernhard-Theater. Die Welt war in unsern Ohren zu Hause.
Und gejasst haben wir in der Stube, ein Kulturgut, das ich bis heute bewahrt habe und auch meinen Söhnen weitergab, und Streichquartett haben wir gespielt (Mutter erste Geige, Bruder zweite Geige, Vater Bratsche, ich Cello), einige Male auch öffentlich, etwa bei einem Familienabend der Kirchgemeinde. Wenn mein Bruder und ich am Abend in unserer Mansarde im Bett lagen, hörten wir manchmal meine Mutter aus dem unteren Stock Mendelssohns Violinkonzert oder eine Bach-Suite üben und wurden von ihren Klängen in den Schlaf gewiegt. 
Für das "Oltner Tagblatt" begann ich als Gymnasiast, Konzert- und Theaterbesprechungen sowie Kurzgeschichten zu schreiben, und der Abdruck dieser Geschichten war eine frühe Ermutigung.
Als ich in die Kantonsschule ging, gab es bereits Saisonarbeiter, die ihre Familie heimlich nachkommen liessen und deren Kinder sich in den Wohnungen verstecken mussten, in steter Angst, entdeckt zu werden. Aber auch als einheimisches Kind konnte man in Heimen, welche sich mit Namen von Heiligen oder einem Wort wie "Liebeswerk" schmückten, so schwer geprügelt und gedemütigt werden, dass man jedes Vertrauen in die Erwachsenen, in die Autoritäten und überhaupt in die Menschen verlor.
All dies erfuhr ich erst später. Ich hatte eine schöne Jugend. Ich. Andere nicht.

Und vielleicht noch eine kleine Reminiszenz an den Ort, in dem wir uns gerade befinden.

 

Sie sitzen, Sie wissen es, bevor Sie es von mir hören, in der Stadtkirche, aber was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass es die christkatholische Kirche ist, und was Sie vielleicht auch nicht wissen, ist, dass ich in dieser Konfession erzogen worden bin, und wenn Sie einen Moment ganz ruhig sind, hören Sie vielleicht von weit her und von weit oben, von der Empore herunter, den Kirchenchor eine Kantate von Bach singen: "Wir e-e-e-e-e e-e-e-e-e  e-e-e-e-e-eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten -" und das Cello, das Sie dazu hören, das spiele ich, als 14jähriger; ich habe oft mitgespielt als Kirchenmusiker, nachdem ich mit dem Cellounterricht weit genug gekommen war.
Ich war bis zu meinem Stimmbruch auch im Jugendchor, und ich war eine Zeit lang Ministrant, bekam ein liturgisches Gewand übergestülpt, einen Rock, der mir bis zu den Füssen reichte, und habe bei der Wandlung mit den Glöcklein geklingelt, die zu viert an einem Metallstab befestigt waren, worauf sich die ganze Gemeinde niederknien musste, um zu murmeln "O Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund", und das Dach, unter dem ich kniete, war sehr hoch über dem Altar, welcher das Heilige verkörperte. Aus dem Tabernakel holte der Pfarrer durch eine Drehung das Ciborium, die Schale mit den Hostien drin, die in der Kommunion den Gläubigen in den Mund gelegt wurden, und auch den Ungläubigen, denn sie waren schwer zu unterscheiden, ich wusste auch nicht recht, ob ich gläubig oder ungläubig war.
Nach einer Weile musste ich den Dienst als Messdiener wieder aufgeben, weil mir ein paarmal schlecht geworden war und ich die sakrale Szene während des Gottesdienstes verlassen musste, was doch etwas peinlich war; was mir aber als Eindruck blieb, war der Blick von der Sakristei hinter den Altar: Hinter dem Altar sah ich einen Putzkübel stehen, und eine Fegbürste, denn die Rückseite hatte überhaupt nichts Festliches, kein einziges vergoldetes Blattornament, auch keine gehäkelte Spitzendecke, die hing nur vorne herab, kein Kreuz im Strahlenkranz, kein glänzender Marmor, sondern nur eine verputzte Rückwand.
Dieses Bild beeindruckte mich fast ebenso wie die Gottesdienste. Ich lernte, dass auch die glänzendste Vorderseite eine Rückseite hat, und dass auch dort, wo über dem Altar das Jüngste Gericht stattfindet, übrigens nach einem Entwurf des satirischen Malers Martin Disteli ausgeführt, dass auch unter dem richtenden Heiland irgendwo ein Putzkübel mit einer Fegbürste steht, mit der man alles Erhabene wegbürsten kann, wenn man mit schwachen, doch emsigen Schritten von der Sakristei hinter den Altar huscht, damit sich bei allem, was heilig ist, keine Spinnweben festsetzen. 

 

Natürlich prägte mich diese Stadt, mit allem, was in ihr geschah und was in ihr nicht geschah, und mit der Landschaft, in die sie eingebettet ist. Ich möchte Ihnen ein Gedicht vorlesen, das wohl ohne die Säliflühe nicht entstanden wäre.

Signal

Auf der Fluh
steht einer
und schwingt
eine Fackel

hin und her
dass die Nacht
sich erhellt
für flüchtige Zeit
mit Funken von Rot.

Die Fackel bin ich.
Der sie schwingt
ist der Tod.

Ein Altersgedicht, das ich mit 20 Jahren geschrieben habe.
Zum Schluss ein etwas aktuelleres Gedicht.


iPhone

 

Wenn er plötzlich
erscheint
auf dem kleinen Bildschirm
in deiner linken Hand
und dich anschaut
der Tod
wisch ihn weg
mit dem Finger
und wähle das App
Leben.

 

Ich danke Ihnen fürs Zuhören und wünsche Ihnen ein schönes  Leben.