Safari durch 8050 Zürich Oerlikon

Kommen Sie mit?
Auf einen kleinen Spaziergang durch Oerlikon?
Ich bin Rekonvaleszent und sollte jeden Tag einen Spaziergang machen, aber weit weg mag ich nicht gehen.
Also, Sie können jederzeit aussteigen, wenn es Ihnen zu viel oder zu wenig wird.
Wir gehen zuerst die Gubelhangstrasse hinauf, an der Methodistenkirche vorbei, einem Gebäude, das bis vor ein paar Jahren eine grosse Kirche mit zwei Wohnungen war und heute, angesichts des Mitglieder- und Geldschwundes,  zu einem Haus mit zehn Wohnungen und einer kleinen Kirche geworden ist. Wir überqueren die Regensbergstrasse und gehen hinter dem Gubelschulhaus in ein Wäldchen, das sich mit  erstaunlich hohen Bäumen und einem dichten Buschwerk gegen den Diminutiv wehrt. Es ist mein kleiner Schwarzwald; wenn Sie nicht zu saubere Schuhe tragen, können Sie mir über einen Pfad folgen, der durch's Gebüsch führt und bei dem Sie manchmal Zweige vom Gesicht fernhalten müssen. Da weht ein Hauch von Wildnis und Stadtabenteuer. Wenn ich hier im Februar die ersten Bärlauchblätter vom Waldboden pflücke, weiss ich, dass der Frühling kommt.
Die Hundepromenade ist etwas bequemer, die Bänklein werden im Sommer gerne als Schattenleseplätze benutzt. Sie können hier auch mit Eingeborenen ins Gespräch kommen, am leichtesten, wenn Sie nach dem Namen des Hundes fragen. In wenigen Minuten sind wir beim Sportplatz, der verharmlosend Spielwiese genannt wird. Auf einem Sockel zeigt jedoch ein strammer Gehender aus Bronze an, dass es um Leistung geht. Die Skulptur stammt vom Bildhauer Franz Fischer, der sein Atelier an der Allenmoosstrasse hatte, sie war 1939 an der Weltausstellung in New York zu sehen, und als sie zurückkam, beschloss der Stadtrat, sie hier als Ebenbild der Ertüchtigung aufzustellen, mit einem kleinen Brunnen zu ihren Füssen. Dass der Geher unbekleidet war, führte allerdings zu einem Protestschreiben der gesamten Lehrerschaft Oerlikons, in dem die Entfernung dieses anstössigen Kunstwerks gefordert wurde. Nur zwei unterschrieben nicht, eine Kindergärtnerin und der Schriftsteller Albin Zollinger. Der Geher steht noch heute am selben Ort, Tag und Nacht, er geht und geht und kommt doch nicht weg.
Aber sein Vorbild wirkt. Auf dem Sportplatz sehen Sie fast bei jedem Wetter Menschen, die auf den vorgezeichneten Bahnen ihre Runden drehen, mit ihren Pulsmessern, Stoppuhren oder Schrittzählern am Handgelenk, aber auch Kinder, meistens Buben, die an einem kleinen Materialhäuschen am Rand des Platzes "Wand ab" spielen.
Ich nehme Sie gern noch zum Albin Zollinger-Platz mit, gleich nach der Spielwiese rechts, wo auf einem Stein zu lesen ist: "Der Dichter ist ein Anwalt des Lebendigen, des Wagnisses". An diesem Platz hat der Autor dieses Satzes  gewohnt, in einem Haus mit einer Bäckerei im Parterre, und ist mit nur 46 Jahren mitten im zweiten Weltkrieg gestorben. Am bekanntesten sein Künstlerroman "Pfannenstiel", in den auch die Geschichte mit dem Geher einfloss, aber überraschender für mich "Der halbe Mensch", ein Roman, der die Liebe eines Lehrers zu einer Schülerin thematisiert und in Zeiten des Missbrauchs aktueller ist denn je. Zur Einweihung dieses Platzes habe ich 1980 einen Text über Zollingers Schulweg geschrieben.
Diesen Weg gehen wir jetzt, er bringt uns in ein paar Minuten zum Liguster-Schulhaus, in dem er unterrichtete. Unlängst habe ich dort vor Sekundarschulklassen meine Erzählung "Die Rückeroberung" vorgetragen, in welcher Zürich zum Dschungel wird. Der Anlass war die Einweihung eines mobilen Bibliothekwagens, welcher die Schulbibliothek ersetzte, die wegen der ausbleibenden Leselust der Schülerinnen und Schüler aufgegeben wurde. Instagram und Tiktok haben die Schlacht um die Bücher gewonnen.
Wir gehen nun die Venusstrasse hinunter - sind Sie noch dabei? - und kommen an einem winzigen Park mit zwei grossen Platanen vorbei, in welchem eine kaum bekleidete Frau nur auf einem Fuss steht, auch sie in Bronze gegossen. Für das Modell war das bestimmt eine anstrengendere Pose als einfach die Arme in die Höhe zu strecken, den Kopf im Nacken. Ich habe schon einige Leute gefragt, von wem wohl diese Skulptur sei, aber niemand wusste es. Hermann Haller? Karl Geiser? Nochmals Franz Fischer? Deshalb nutze ich jetzt meine Chance, für die "NZZ am Sonntag" und ihr gebildetes Publikum schreiben zu dürfen und frage Sie, die Mitlesenden, ob es jemand von Ihnen weiss.
Von den  zwei Wohnblöcken des Bauhofs linkerhand steht der eine diagonal zur Strasse, ein städtebaulicher Kniff des Architekten gegen das Geradlinigkeitsdenken. Der Laden des Hauses rechterhand steht leer, die Papeterie Nievergelt ist verschwunden, das Haus wurde von einer Immobilien-Holding mit Sitz in Israel gekauft, ebenso wie die daran anschliessende Buchhandlung Nievergelt, bei der ich alle meine Bücher kaufe und die sich jetzt nach neuen Räumlichkeiten umsehen muss.  
Ganz sicher von Franz Fischer ist der Brunnen auf dem Franklin-Platz, zu dem wir jetzt gelangen. Ein Bursche und ein Mädchen halten je einen Fisch in der Hand, aus dem sich ein Wasserstrahl ergiesst. Halten Sie einen Moment an, bitte? Ich trinke jedes Mal, wenn ich daran vorbeikomme, drei Schlucke Wasser.
Die Franklinstrasse, die zu ihm führt, bekam ihren Namen übrigens bei der Eingemeindung von Oerlikon in die Stadt Zürich 1933, und zwar vom späteren Geographieprofessor Armin Bollinger. Sein Vater, so erzählte es mir Bollinger, war der letzte Gemeindeschreiber von Oerlikon und da es einige Oerliker Strassennamen bereits in Zürich gab, sagte er  seinem Sohn, damals Student, für jeden neuen Namen, den er vorschlage und der vom Stadtrat bewilligt werde, bekomme er 10 Franken. Franklinstrasse, Nansenstrasse, Ohmstrasse, Gubelhangstrasse (die ehemalige Bergstrasse) wurden problemlos genehmigt, sogar die seltsame Welchogasse, welche nach einer alemannischen Landnahme klingt, aber eine pure Erfindung des sprachbegabten Studenten war.
Wir treten nun in eine Schlucht ein, die sich durchzwängt zwischen dem Einkaufszentrum Neumarkt und dem ehemaligen Swissôtel und noch ehemaligeren Hotel International, das mit einem grünen Mantel eingekleidet ist, da es während der Pandemie an ein Pariser Unternehmen verkauft wurde und nun in ein "Mama Shelter" Hotel mit lauter Kleinstwohnungen umgerüstet wird. Unter dem Vordach warten die "Uber Eat"- Velokuriere mit ihren grossen würfelförmigen Rucksäcken auf die nächsten home delivery-Aufträge.
Wir könnten jetzt noch zu den Allwetterschachspielern auf den Marktplatz ausweichen, dem Platz, auf dem Mittwoch und Samstag als urbaner Vitaminstoss ein wirklicher Markt stattfindet, aber Sie wollen wieder nach Hause, ich merke es, und  am Ende der Schlucht erwartet uns der Bahnhoftrakt, mit einem grünen Oberbau, dessen einzige  Funktion es ist, Farbe ins Häusergrau zu bringen, und schon stehen wir in der nächsten Schlucht am Fuss des neu erbauten Franklinturms, und weiter drüben ragt wie der Bug eines gewaltigen Schiffes der Andreasturm auf und gibt downtown Oerlikon eine neue Skyline.
Hier kehrt der Rekonvaleszent wieder um, ohne Sie auf der andern Seite der Gleise zur einzigen wirklichen Sehenswürdigkeit Oerlikons geführt zu haben, dem MFO-Park, einer mehrstöckigen, bis nach oben begehbaren Pergola, von Kletterpflanzen umrankt, einem vertikalen Park sozusagen, in Ermangelung einer genügend grossen Parkfläche. Aber vielleicht mache ich Sie neugierig und Sie gehen selbst einmal dorthin. Ob sich die Reise nach Oerlikon für Sie gelohnt hat, weiss ich nicht, ich habe Sie einfach in meine alltägliche Umgebung mitgenommen, und Sie wissen ja, das, was man jeden Tag sieht, wird zur Heimat, ob man es will oder nicht. Sogar die Postleitzahl.

 

                                                     NZZ, Reisen, 6. Jan. 2024