Ansprache zum Kunstpreis der Stadt Zürich 2005 (20.09.2005)

Grüezi mitnand, Ich danke dem Stadtrat von Zürich für diesen Preis, ich danke Lukas Bärfuss für seine Ansprache, und es wird Sie nicht überraschen, wenn ich nun selbst eine kleine Ansprache halte. Ich möchte mit einem Gedicht beginnen, es blickt auf das Jahr meiner Geburt und heisst

Im Jahre 1943
Am 13. Januar
starb in Zürich
fliehend aus dem besetzten Frankreich
die Malerin, Tänzerin, Träumerin
Sophie Täuber-Arp.
Sie heizte ein kaltes Zimmer
mit Blättern
ihres Französisch-Wörterbuches
das sie nun
nicht mehr brauchte
und vergiftete so
ihre Lungen.

Am 22. Februar
starb in München
jung, so jung
die Träumerin, Denkerin, Flugblattverteilerin
Sophie Scholl
durch das Fallbeil.
Sie hatte die Freiheit des Menschen
eingefordert in unfreier Zeit.

Am 1. März
gebar meine Mutter in Biel
ihr zweites Kind.

Ich hoffe, es haben
Zuflucht gefunden
in meiner Seele
die zwei Sophies
spielend die eine
denkend die andere
beide träumend
von Freiheit
von Schönheit
von Mut
und von Liebe.

Ich bin in Olten aufgewachsen, spielend, singend, pfeifend, musizierend, theaterspielend, denkend, schreibend, träumend, mit einem Bruder, der ebenso gern spielte wie ich, mit Eltern, die gern musizierten, wie meine Mutter, und gern Theater spielten, wie mein Vater, und beide gern lasen, wovon eine grosse Bibliothek zeugte, aus der ich mich bediente, sobald ich einigermassen lesen konnte, so dass ich, als mir zum erstenmal das Wort „Kultur“ begegnete, dachte, das kenne ich, das haben wir zu Hause auch.
Sobald ich lesen konnte, begann ich auch zu schreiben, kleine Geschichten, kleine Gedichte, oder Verse, die ich selbst illustrierte, wie ich das bei Wilhelm Busch und Globi gesehen hatte. Wichtig war es für mich immer, diese Werke auch vorzutragen, ja, ich hatte das Gefühl, eine Geschichte sei nicht dann fertig, wenn sie geschrieben sei, sondern erst dann, wenn sie vorgetragen wurde. Mein erster Vers, den ich als 8jähriger schrieb, hiess „Auf seinem Pferd Herr Fadian sich sieht die schöne Landschaft an.“ und dazu hatte ich einen Reiter auf einem Pferd gezeichnet. Der Ausritt wurde dann durch eine Wespe gestört, die dem Pferd in den Hintern stach, worauf dieses durchbrannte und mit seinem unglücklichen Reiter in eine Schlucht stürzte, wo das Pferd den Hals brach und Herrn Fadians Schädel durch einen spitzen Stein zertrümmert wurde, so dass Ströme von Blut den Boden der Schlucht tränkten. Die Moritat schloss mit der Ermahnung:
„Und die Moral von der Geschicht:
Lass dich von Wespen stechen nicht!“
Aber sonst war ich ein friedliches Kind.
Nur in das, was ich dachte und träumte, schlichen sich Dramen und Katastrophen ein, führten ein Eigenleben und riefen nach Darstellung.
Zu meiner ersten Begegnung mit Zürich kam es, als ich zwölf Jahre alt war. Das Wort „schwer krank“ stand plötzlich neben meinem Bett und beugte sich über mich, an einem Sonntag fuhr mich unser Kinderarzt in seinem Privatwagen von Olten nach Zürich ins Kinderspital, und ich wusste, wenn du nach Zürich musst, ist es ernst. Die Krankheit erwischte mich in meiner ersten nachdenklich-philosophischen Phase, in der ich gerade beschlossen hatte, Optimist zu sein und alles interessant zu finden. Und so fand ich auch das Einzelzimmer, in das Ärzte und Krankenschwestern mit besorgten Gesichtern traten, interessant, und ich blieb noch dann optimistisch, als ich vor Müdigkeit kaum mehr sprechen konnte. Es war ein neues, wenig bekanntes Syndrom, auf das eine therapeutische Antwort fehlte, später vernahm ich, dass die meisten Kinder daran starben, und rückblickend glaube ich, dass es weniger die Medizin war, die mich gerettet hatte, sondern der zwölfjährige Philosoph, die beiden Sophies. Zürich aber blieb die Stadt, in der ich geheilt wurde.
Als Gymnasiast kam ich wieder hierher, um Cellostunden zu nehmen, bei Hans Volkmar Andreae, einem Schüler von Pablo Casals, der mehr als ein Musiker war und auch den Denker in mir forderte und förderte. Ich nahm eine Weile lang Schauspielstunden bei der Witwe von Alexander Moissi am Toblerplatz, wo ich den Monolog des Antonius vor der Leiche Cäsars rezitierte, „Nun liegt er da, und der geringste beugt sich nicht vor ihm“. Mit meiner Klasse aus Aarau, wo ich inzwischen zur Schule ging, besuchte ich hier im Schauspielhaus „Andorra“ von Max Frisch , das mich bewegte, und ich sah mir im „Theater am Hechtplatz“ César Keiser an, der mich erregte, weil ich dachte, so etwas könnte ich auch machen.
Als ich dann in Zürich Germanistik und Romanistik studierte, legte ich mir in meinem Kopf zwei mögliche Biographien zurecht.
Die erste war die eines Mittelschullehrers, der nach abgeschlossenem Studium an einer unserer Bildungsstätten unterrichten würde.
Die zweite, und die gehörte zum Träumer, war die eines Dichters, Sängers und Bühnenkünstlers, der von und mit seinen Ideen leben könnte.
Wenn ich von der Uni die Spiegelgasse hinunterging, kam ich immer gern am Haus vorbei, in dem die Dadaisten gewirkt hatten, ich stellte mir vor, wie Hugo Ball in seinem Kartonkostüm seine unverständlichen Monologe ins Publikum schleuderte, oder wie Hans Arp, der spätere Ehemann Sophie Täubers, mit Sätzen wie „sankt ziegenzack springt aus dem ei“ dem verblüfften Zürcher Publikum die Welt erklärte. Sie waren allesamt auftrittssüchtig, und sie wollten allesamt der Realität ihre Abscheulichkeit heimzahlen, indem sie sie mit der Phantasie lächerlich machten. Und dann beschloss ich, dies auch zu tun. Ich versammelte meine Gedichte, Texte, Lieder, Parodien und Phantastereien um mich, ordnete sie zu einem literarisch-musikalisch-satirischen Ganzen, nannte es „pizzicato“ und bat den Rektor der Universität, mir den alten Heizungskeller zur Verfügung zu stellen, damit ich ihn in ein Theater verwandeln und dort mein Programm spielen konnte.
So etwas war nun in keinem Studiengang und in keinem Betriebsreglement vorgesehen, und ich halte es für eine beachtliche Tat, dass der damalige Rektor, Eduard Schweizer, keinen Moment zögerte, mir diesen Raum zu bewilligen, mir, einem Studenten, der nichts vorzuweisen hatte als seine Überzeugung, er könne etwas. Das war 1965, das Programm wurde ein Erfolg, ich musste es verlängern und wurde im selben Jahr nach Berlin eingeladen, wo ich auch verlängern musste und so gute Kritiken bekam wie nachher während 30 Jahren nicht mehr. In der Folge wurde ich ins legendäre „Kom(m)ödchen“ in Düsseldorf eingeladen und in die ebenso legendäre „Lach- und Schiessgesellschaft“ in München, ich beschloss, mich für ein Jahr von der Uni zu verabschieden, und dieses Jahr dauert heute noch an.
Übrigens, die Gastspiele in München und Düsseldorf waren eine Katastrophe, und es begann das ganz normale Künstlerleben mit seinen Ups and Downs. In meiner Arbeit spielte zwar das Auftreten eine grosse Rolle, aber es war nicht meine einzige Rolle. Bevor der Kabarettist mit einem Text auf die Bühne geht, schreibt er ihn, und der Autor stand für mich immer am Anfang meiner Arbeit. Als Autor habe ich mich gern in verschiedenen Formen versucht, in der Kurzgeschichte, im Gedicht, im Chanson, in der Novelle, im Roman, im Theater, in Kinderbüchern, in Radio- und Fernsehsendungen für Kinder, aber auch in der satirischen Glosse für Fernsehen oder Radio. Es interessierte mich das ganze Spektrum - ich sah mich stets als literarischen Allgemeinpraktiker.
Gewohnt habe ich in dieser Zeit in Zürich, zuerst an der Hochstrasse in einer Dachkammer des evangelischen Kantonsspitalpfarrers, dann an der Höschgasse in der neogotisch-postschottischen Villa Egli, dann in Männedorf im Gästehäuschen eines Zürichseeanwesens, dann in Uetikon hoch über dem See, in einer Art altem Haus von Rocky Docky, das vor dem zweiten Weltkrieg vom Schriftsteller Felix Moeschlin und viel später von Jürg Schubiger bewohnt worden war. Seit 27 Jahren bin ich in Örlikon, in einem mittlerweile über 100jährigen, von immer höher wachsenden Bäumen umstellten Backsteinhaus, von dem aus ich Adler sehe und die Eruption neuer Berge in der Agglomeration beobachte und das mein verstorbener Freund Niklaus Meienberg halb ironisch, halb vorwurfsvoll als „Schlössli“ bezeichnete.
Am ersten Morgen, nachdem wir nach Zürich umgezogen waren, einem Frühlingstag des Jahres 1978, stand ich an der Tramhaltestelle Regensbergbrücke und sah einen Mann auf dem Velo die Hofwiesenstrasse hinaufstrampeln. Er trug ein überaus farbiges, geschmackloses Hawaii-Hemd, hatte kurze Hosen und Damenstrümpfe an, und ich erinnere mich gut an die Erleichterung, die ich spürte, als ich nach zehn Jahren Exil in ländllichem Glück mit dörflicher Sozialkontrolle diesen Velofahrer sah, er kam mir vor wie ein Bote, der mir die Nachricht überbrachte, hier könne ich aussehen, wie ich wolle, es kümmere niemanden. Es war ein Willkommgruss der Stadt. Aber die Rechnung geht nicht so einfach auf. Nicht jede Kostümierung ist hier willkommen, und eine Stadt wie Zürich ist ein rätselhaftes und widersprüchliches Gebilde. Ich kann mit Ihnen am Vormittag einen Rundgang unter dem Titel „Zürich, schönste Stadt der Welt“ machen, und am Nachmittag einen zweiten Rundgang „Zürich, hässlichste Stadt der Welt“. Sieger und Verlierer sind hier ganz nah zusammen, und doch leben sie in verschiedenen Welten, wissen oft nichts voneinander. Und wenn eines Tages die Verlierer aufstehen und wie vor 25 Jahren sagen, sie seien die Kulturleichen der Stadt, wissen die Sieger nicht, wovon die Rede ist. Vielleicht heisst das Motto beim nächsten Aufstand nur noch „Wir sind die Leichen der Stadt“, und die Gewinner werden erneut die Köpfe schütteln und dankbar aus den Zunfthäusern auf den Einsatz der Wasserwerfer blicken.
Zürich ist Bühnenbild für Welttheater. Auf dem gepflegt-beschaulichen Fraumünsterplatz, auf dem die Stadtbevölkerung 1946 Winston Churchill zujubelte, als er ein vereinigtes Europa forderte, starben schon Menschen durch Schüsse des Militärs, beim Generalstreik und beim Züriputsch, im Keller des ebenso hässlichen wie dauerhaften Coopgebäudes auf der Bahnhofbrücke, welches damals noch das Globusprovisorium war, wurden 1968 wahllos Menschen durch die Polizei misshandelt, nachdem der Megafon-Aufruf von Polizeikommandant Bertschi vom Balkon gegenüber, der Aufruf „Bitte lösed Sie sich uuf!“ erfolglos verhallt war. An diesen Aufruf erinnere ich mich noch gut. Ich stand damals auf der anderen Seite am Central, und es war der Urschrei der Sieger an die Verlierer, oder der Zufriedenen an die Unzufriedenen, sie sollen sich doch am liebsten einfach auflösen. In den achziger Jahren wurde die Kulisse der Bahnhofstrasse durch Züge von Jugendlichen verwüstet, zugunsten eines autonomen Jugendzentrums auf der Schattenseite des Hauptbahnhofs, das nach ebenso kurzer wie chaotischer Lebenszeit zu einem Busparkplatz eingeebnet wurde, dann wurde ein Akt mit dem Untertitel „Ein Alptraum“ eingeschoben, in dem Hunderte von Drogenabhängigen den Platzspitz hinter dem Landesmuseum in Besitz nahmen und dann weiter ins Lettenareal zogen, bis sie verschwanden oder zum Verschwinden gebracht wurden - wo sind sie eigentlich heute? - und seit den neunziger Jahren wälzt sich jedes Jahr der Millionenwurm der Street-Parade als wummerndes Bekenntnis zum Fun durch unser Zureich, ein Bekenntnis, das dieses Jahr mitgetragen wurde durch Scharen von Kunststoff-Teddybären von infantiler Harmlosigkeit. Wie das Stück in diesem mir inzwischen vertraut und auch lieb gewordenen Bühnenbild weitergeht, weiss niemand, wir sollten uns aber durch das Vertraute und Friedliche nicht täuschen lassen und auf Überraschungen gefasst sein.
Nachdem mir an einem sonnigen Donnerstag Nachmittag im Juni der Stadtpräsident mitgeteilt hatte, dass ich den Zürcher Kunstpreis bekommen solle, sich dann mit mir und Beat Kennel zusammen den Fotografen gestellt hatte, und in einer Ecke des Saales, intensiv gestikulierend, den Fragen des „Tages-Anzeigers“, deren Charme sich mir erst tags darauf eröffnete, stand ich anderthalb Stunden später, immer noch überrumpelt und etwas ratlos, unter den Arkaden des Stadthauseingangs auf den Reiskörnern und Rosenblättern der Trauungen und Scheinehen und fragte mich: Und jetzt?
Dann ging ich, vorbei am Denkmal Zwinglis, nach einem Abstecher zum Hechtplatz zum Grossmünster hinüber, in dem ich schon musikalische Meditationen abgehalten und den frisch diplomierten Ärzten zugesprochen hatte, setzte mich zum Orgelspiel eines Musikhochschülers, das gerade durch die Kirche brauste, in die Krypta zur unheimlichen Statue Karls des Grossen, um mich bei den Ortsgeistern zu bedanken. Dann betrat ich das Dada-Haus, im Gedenken an meine toten kosmopolitischen und pankulturellen Kollegen, erinnerte mich auch an den in Zürich gestrandeten Walter Mehring, mit dem zusammen ich 1970 die erste literarische Ehrengabe der Stadt Zürich bekommen hatte und der sich bei mir beklagte, dass niemand das verlegen wolle, was er heute schreibe, ging dann an Lenins Wohnhaus und Gottfried Kellers „Öpfelchammer“ vorbei zum Neumarkt, wo ich vor der Kantorei zwei lebende Schriftstellerkollegen grüsste, die, wie man das von Schriftstellern erwartet, einen gespritzten Weisswein tranken und diskutierten. Vorsichtshalber erzählte ich ihnen nichts von meinem Glück, sondern besuchte den Hutladen etwas weiter oben, kaufte mir dort, ohne auf den Preis zu achten, einen neuen Panamahut für den heissen Sommer und setzte ihn sofort auf.
Ich machte dann einen kleinen Umweg durch die Froschaugasse und gedachte all der Juden, denen Zürich kein Glück gebracht hatte, vom Mittelalter bis hin zu Else Lasker-Schüler, die mir für einen Augenblick aus der Synagogengasse in den Weg trat und zu mir sagte: „Ich suche allerlanden eine Stadt, die einen Engel an der Pforte hat“. Ich entschuldigte mich bei ihr, dass auch Zürich nicht diese Stadt war, bevor ich zur Universität hochstieg und in Gedanken den Rektor Schweizer grüsste, der ja Theologe war und sich jetzt wohl noch weiter oben mit Heinrich Bullinger und Karl Barth darüber unterhält, ob eigentlich die Theologie seit Christi Geburt Fortschritte gemacht hat. Dann bestieg ich das Tram bei der ETH, fuhr am Haus an der Universitätsstrasse vorbei, in dem James Joyce am „Ulysses“ schrieb, den ich auch in diesen Sommerferien im Koffer hatte und auch in diesen Sommerferien wieder nicht gelesen habe, stieg am Milchbuck in den Vierzehner um, verliess ihn am „Sternen Örlikon“, ging die Gubelhangstrasse hinauf, die schon Albin Zollinger heruntergekommen war, wenn er seine Manuskripte zur Post brachte, öffnete unser rostiges Gartentor unter der grossen Birke, von welcher der unruhige Gesang der Mönchsgrasmücke erklang, ging die Treppe hoch und machte die Haustür auf. Weiter stieg ich das Treppenhaus hoch bis zum Arbeitszimmer Ursulas, der Frau, die ich 1968 in Zürich geheiratet habe und die mich 1968 in Zürich ebenfalls geheiratet hat. Weder sie noch ich wussten damals etwas von unsern beiden Söhnen, die später dazukamen und hier zu Zürchern wurden. Sie sass, wenn ich mich recht erinnere, an ihrem Laptop.
„Und,“ fragte sie, „worum hesch jetz is Stadthuus müesse?“

Da der „Tages-Anzeiger“ diese Ansprache am 21.09.05 auszugsweise abdruckte, druckte er am 22.09.05 auch meine folgende kleine Berichtigung:

Heeerlig!

Beim Apéro nach der Kunstpreisverleihung sagte mir jemand, der ehemalige Rektor der Uni Zürich, Eduard Schweizer, der in meiner Ansprache bereits in höheren Sphären mit Heinrich Bullinger und Karl Barth über die Frage diskutierte, ob eigentlich die Theologie seit Christi Geburt Fortschritte gemacht habe, sei noch keineswegs in höheren Sphären, sondern erfreue sich eines hohen Alters in guter Gesundheit. In meiner Erinnerung war er damals, als er mir erlaubte, den Heizungskeller der Uni in ein Theater zu verwandeln, ein mindestens 60jähriger Herr, aber ein Blick ins Telefonbuch hätte genügt, mich eines besseren zu belehren. Etwas konsterniert schaute ich am andern Morgen auf den Eintrag „Schweizer Eduard u. Elisabeth, Prof.Dr.“; da war mir eine Peinlichkeit unterlaufen, die es sofort zu entschuldigen galt. Das ist wohl die Strafe, dachte ich, dass ich Robert Musil den Satz mit der Theologie geklaut habe, ohne ihn zu deklarieren.
Am Nachmittag stand ich vor der Tür der Altersresidenz, mit einem Blumenstrauss in der einen Hand und dem Corpus delicti, dem Abdruck meiner Ansprache, in der andern Hand. Ich gestand Herrn Schweizer, währenddem seine fröhliche Frau einen Kaffee zubereitete, wohin ich ihn versetzt hatte und wie sehr mir dies Leid tue, wie sehr es mich aber auch freue, dass ich ihm meinen Dank nach vierzig Jahren nochmals persönlich abstatten könne, denn er habe mir seinerzeit mit dieser Bewilligung etwas Wesentliches ermöglicht, das ich ihm nie vergessen habe.
Und wie reagierte der würdige Emeritus darauf? Er brach in ein grosses Gelächter aus und sagte in breitestem Baseldeutsch: „Heeerlig!“ Dann nahm er mich am Arm, führte mich zum Kaffeetisch, schlug vor, wir können uns Du sagen und fragte: „Wo wettsch hogge?“

Laudatio von Lukas Bärfuss (Zürich, 20. September 2005)

Lieber Franz Hohler,

wer einen Preis vergibt, der gibt sich preis.

Die Stadt Zürich vergibt dir heute Abend ihren Kunstpreis, und ich darf die Laudatio halten, was mich ehrt und freut und, ehrlich gesagt, etwas in Verlegenheit bringt. Eine Laudatio ist nämlich eine Lobrede, wie mir der Duden sagt, und eine Lobrede enthält doch nur Gutes. Wenn es aber heisst, über Tote nichts als Gutes, dann gilt wohl auch der Umkehrschluss, nichts als Gutes nur über Tote. Und abgesehen davon fürchte ich, dass ich mit einer reinen Lobhudelei zuallererst deinen Widerspruch herausfordern müsste, und dass du dich heute Abend selbst kritisieren müsstest, das wäre diesem hohen Anlass gewiss nicht würdig.

Deshalb will ich die Gelegenheit viel lieber für etwas nutzen, das mir ganz leicht geht und mir grosse Freude macht. Ich will dir danken. Ich will dir danken, dass du dich mit uns geteilt hast und immer noch teilst.
Ich will dir für alles danken, was ich von dir, von deiner Kunst gelernt habe. Und das ist viel, sehr viel.
Viel gelernt habe ich zum Beispiel von einer gewissen Geschichte in deinem Buch „Wo?“, das im Jahr 1975 zum ersten Mal erschienen ist.
Die Geschichte trägt den Titel: Im 6. Stock und sie beginnt so:
Unter mir ist ein Dachkännel, der wahrscheinlich verstopft ist. Das Wasser kräuselt sich darin. Ein riesiges Entlüftungsrohr kriecht 5. Stockwerke an der gegenüberliegenden Mauer hoch. Es sieht so aus:
So beginnt diese Geschichte, aber dann, ja dann folgt nicht etwa eine Beschreibung dieses besagten Entlüftungsrohres, sondern, Achtung, Skandal: eine halbseitige Zeichnung davon. Keine besonders schöne, das muss ich leider sagen, sondern eine mit krakeligem Strich Gezeichnete, allerhöchstens Zweckmässige, die allerdings vollkommen genügend dieses alberne, hundsgewöhnliche Entlüftungsrohr abbildet.

In diesem ganzen Band findet sich keine einzige weitere Zeichnung, und ich weiss noch, wie damals, als ich diese Geschichte zum ersten Mal las, oder eben nur zum Teil las, wie damals die Empörung in meinen Kopf stieg, dessen Wangen, nebenbei gesagt, gerade vom ersten Flaum bewachsen wurden. Ich war also in jenem Alter, in dem man radikale Ansichten von der Welt zu haben pflegt, radikale und vor allem unerschütterliche Ansichten.

Was fällt diesem Hohler ein, schrie ich innerlich. Er hat dieses Lüftungsrohr gefälligst zu beschreiben! Und nicht zu zeichnen. Wenn ich eine Lüftungsrohrzeichnung will, dann kaufe ich mir einen Katalog für Klimaanlagen, oder etwas Ähnliches. Ich habe mir aber ein Buch gekauft, Literatur. Dieser Hohler war doch nur zu faul, ein paar ordentliche Sätze zu machen! Wenn seine dichterischen Fähigkeiten nicht ausreichen, ein solches Rohr zu beschreiben, dann soll er es eben sein lassen. Wo kommen wir denn da hin, wenn Schriftsteller nicht mehr schreiben, sondern zeichnen, Zeichner Cello spielen, Cellisten plötzlich Filme drehen, oder Filmemacher vielleicht sogar Kabarett machen?

Heute, ehrlich gesagt, ist es mir einerlei, wohin wir damit kämen, aber ich weiss, dass wir nur auf diese Weise ein so wunderbares Werk wie deines geschenkt bekommen. Ich möchte dir also danken, dass du dich nicht um meine dummjugendlichen Schubladen gekümmert und dich nicht zufrieden gegeben hast mit einer Berufsbezeichnung, sondern über den Hag gefressen hast, wo immer es dir beliebte. Man glaube nicht, diese Angewohnheit sei wohlgelitten. Es wird zwar allenthalben vom hohen Wert des Interdisziplinären geschwätzt, aber wehe einer wagt es, die eng gesteckten Grenzen der üblichen Fachidiotie zu verlassen. Für die Zuordner, Einordner wird es schwierig. Sie wissen nicht, wer sich um dich zu kümmern hat, und das ist in einer Zeit, wo sich man sich genau um das und nur um das zu kümmern pflegt, was in seinem eigenen Garten liegt, eine ziemliche Herausforderung.

Du hast dich nicht also nicht an die Ordnung gehalten, aber ein paar Jahre früher ist dir etwas gelungen, was vorher und nachher nur ganz wenigen gelungen ist. Mir hast du Ordnung beigebracht, oder besser: Sorgfalt.

Ich war von früher Jugend an ein Dauergast in unserer Stadtbibliothek, und ich habe ausgeliehen, was auf die Bibliothekskarte passte. Die kostete bloss drei Franken im Jahr, aber ich war trotzdem nie flüssig, denn ein Grossteil meines Taschengeldes ging für die Mahnungen drauf, und oft genug hatte ich verlorene oder von Lumpi, unserem bissigen und kulturignoranten Dackelmischling, angefressene Bücher zu ersetzen.

Einmal fiel in der Bibliothek eine kleine offene Schachtel, ein Schuber, in meine liederlichen Hände. Wegwerfgeschichten stand darauf, verfasst von Franz Hohler. Darin fanden sich einige Dutzend lose Seiten, und auf jeder Seite stand eine Geschichte. Ich rechnete nicht damit, dass mir die Bibliothekarin diese verletzliche Preziose überlassen würde. Schliesslich hatte ich allergrösste Mühe, selbst ledergebundene Wälzer erstens vollständig und zweitens fristgerecht zurückzubringen. Eine Loseblattsammlung in meinen Händen war todgeweiht, und der Titel, Wegwerfgeschichten, vollkommen überflüssig. Ich brauchte nichts wegzuwerfen, die Seiten würden von ganz alleine verloren gehen.

Die Bibliothekarin lieh mir den Schuber trotzdem aus, allerdings warf sie mir einen Blick zu, als habe sie nicht das Rückgabedatum in den Leihzettel gedrückt, sondern bereits den grossen roten Stempel „Ausgeschieden“. Irgendetwas in diesem Blick muss meinen Ehrgeiz angestachelt haben. Ich wollte der Bibliothekarin und der restlichen Welt beweisen, dass man mir Unrecht tat und ich sehr wohl Sorge tragen konnte.

In den nächsten Wochen hütete ich diese Schachtel wie meinen Augapfel. Mein Zimmer, mein Schulpult, meine Familie, alles versank im Chaos. Oft genug konnte ich meinen rechten Schuh nicht finden, hatte ich ihn endlich gefunden, fehlte plötzlich der Linke. Wo deine Wegwerfgeschichten waren, lieber Franz, das wusste ich hingegen immer. Täglich zählte ich die Seiten, und ich behielt den Schuber genau die erlaubten dreissig Tage lang. Natürlich hätte ich ihn früher in die Bibliothek zurückbringen können, aber ich hätte damit die Regel verletzt.

Nein, der Bibliotheksdirektor verlieh mir keinen Orden, die Zeitung berichtete nicht über das unwahrscheinliche Ereignis, dass ich das Buch vollständig und fristgerecht zurückgebracht hatte. Selbst die Bibliothekarin liess sich nichts anmerken und nahm die Wegwerfgeschichten gelangweilt zurück. Von meiner Anstrengung hat sie nichts gemerkt. Aber ich hatte gelernt, dass es im Umgang mit der dinglichen Welt weniger um Ordnung, als vielmehr um Sorgfalt geht. Buch habe ich seither keines mehr verloren.

Lieber Franz Hohler, ich fürchte es wird erwartet, ich würde dir für deinen kritischen Geist danken. Und das könnte ich durchaus, aber mindestens so vorbildhaft ist mir dein Fleiss.
Auch ein kritischer Geist schreibt ohne Fleiss keine Bücher. Und ich wollte Bücher schreiben, so wie du, mehr noch, ich möchte mindestens so viele Bücher schreiben, wie du geschrieben hast. Für das noch nicht geschriebene Werk eines Hallodri wie ich, der abends gerne noch ein bisschen sitzen und morgens gerne noch etwas liegen bleibt, ist es deshalb hilfreich, in Zürich Oerlikon einen zu wissen, der immer noch, oder schon wieder an seinem Schreibtisch sitzt und sich nicht mit dem Schweigen begnügt. Danke auch für dieses Vorbild.

Den ersten Teil deiner vielleicht wichtigsten Lektion allerdings, den habe ich im Schuljahr 82/83 gelernt. In der dritten Klasse der Primarschule Gotthelf in Thun bist du damals in einer Abstimmung Astrid Lindgren unterlegen. Die Kinder entschieden sich für die Brüder Löwenherz als Samstagslektüre, und nicht für deinen Träumling Tschipo. Bloss eine einzige Stimme hast du erhalten, nämlich meine.

Natürlich war ich verletzt.
Was mich schmerzte, war nicht etwa, dass wir nicht dein Buch lasen.
Ehrlich gesagt, ich hatte es bereits gelesen.
Schlimmer war, dass ich nicht zur Mehrheit gehörte, oder dass die Mehrheit nicht zu mir gehörte.

Was ist schöne Kunst, was ist ein gutes Buch, wenn es keine Mehrheit findet? Sie ist keine Kunst, und das Buch ganz allerhöchstens Papierverschwendung.

Was ist unserem Staat eine gerechte Sache, wenn sie keine Mehrheit findet? Sie ist nicht gerecht. Wir sind ja schliesslich Demokraten. Wir fügen uns der Mehrheit.

Ich hatte vor einiger Zeit die Ehre, mich mit einem leibhaftigen Bundesrat zu streiten. Er war mit einem gewissen Theaterstück, das ich geschrieben und er, das heisst, der Bund bezahlt hatte, ganz und gar nicht einverstanden. An der Premierenfeier meinte er zu mir, das sei nun aber ganz gewiss kein kulturelles Ereignis gewesen und fügte, weil es sich bei der Vorführung um eine einmalige Sache ohne Wiederholung gehandelt hatte, hinzu: Es isch e Prömiere gsi, u we mer ehrlich si, si mer froh, isch es o Derniere gsi.

Nun, um genau zu sein, er war nicht einverstanden gewesen mit der Darstellung einer gewissen Problematik, welche vor allem die Sans-Papier hart trifft, die Tatsache nämlich, dass niemand wählen kann, als wessen Staatsbürger er zur auf diese Welt kommt.

Von unserem obersten Magistraten wollte ich deshalb wissen, wann die Politik in dieser Frage endlich vorwärts mache und den Menschen, die hier leben, arbeiten und in die Sozialwerke einzahlen, endlich auch eine ordentliche Aufenthaltsbewilligung erteile.

Der Herr Bundesrat erteilte mir nun den zweiten Teil dieser Lektion.
Er würde mir formalpolitisch recht geben, in dieser Sache müsse tatsächlich etwas geschehen. Mit unserem Theaterabend und mit unseren entsprechenden Äusserungen in der Presse allerdings, hätten wir nun eben die Mehrheit vertäubt, jene Mehrheit, um die er jeden Tag so bitter kämpfen müsse, damit sich etwas ändere in diesem Land. Ich selbst hätte also mit meinem ungestümen Einstehen für die Minderheit der Sans-Papier das sachlich durchaus berechtigte Anliegen hintertrieben.

Lieber Franz Hohler, du hast dich nie bemüht, in der Mehrheit zu sein. Als Künstler sind wir nämlich keine Demokraten. Vladimir Nabokov hat einmal gemeint, er könne mit dem Begriff der Gesellschaft nichts anfangen, es handle sich dabei um ein Abstraktum, und als Schriftsteller kümmere ihn nur das Konkrete. Konkret, und damit darstellbar ist nur der Einzelne. Wir glauben nicht nur nicht an die Mehrheit, wir glauben ausschliesslich an die extremste Minderheit, und das ist der einzelne Mensch.

Gleichzeitig wissen wir, wie gefährlich jene sind, die eben diesen Satz für die Politik in Anspruch nehmen. Ich kenne keine Gesellschaft, ich kenne nur Individuen. Nabokovs Satz hat für die Politik Maggie Thatcher formuliert, und sie hat damit wie viele andere in ihrer Nachfolge die Zerschlagung der Gewerkschaften und aller anderen Institutionen gerechtfertigt, die für gesellschaftliche Solidarität stehen.

In diesem Widerspruch existieren wir. Wir haben kein Programm. Wir stehen einerseits für die Einzigartigkeit des Menschen ein, dafür, dass alles, was sich allgemein über die Menschheit sagen lässt, dem einzelnen Menschen nicht gerecht wird und ihm sogar Gewalt antut.
Und andererseits wissen wir doch, dass, wer dieser Vereinzelung und der Segmentierung der Gesellschaft das Wort redet, eine bewährte Strategie verfolgt. Teile und herrsche, heisst sie.

Du hast mit deinen Büchern, mit deinen Stücken, mit deinen Bühnenprogrammen, mit deinen Lieder immer geteilt, lieber Franz Hohler, so lange, bis aus der gesichtslosen Masse der Einzelne und im Meer der gleichförmigen Zeit der einzigartige Moment erschien.

Die Mehrheit, die immer schweigend ist, bestimmt die Tatsachen. Von dir, lieber Franz Hoher, habe ich aber gelernt, dass wir unsere Wirklichkeit nicht einfach den Tatsachen überlassen können, nicht einfach dem Mann, der am Rand von Ostermundigen sitzt, und immer, wenn sein Telefon klingelt, sagt: Das ist der Rand von Ostermundigen.

Von dir habe ich gelernt, dass der schweigenden Mehrheit und ihren Tatsachen nichts anderes gegenübergestellt werden kann, als das sprechende, schreibende, das Cello spielende Ich.

Und wenn ich auch weiss, dass eine erfundene Geschichte nie eine Tatsache sein wird, so weiss ich doch dank dir, dass sie wirklich ist.

Lieber Franz Hohler, ich soll dir noch einen Dank bestellen. Von meiner Frau. Sie will dir danken, dass du sie in die Wüste Gobi entführt hast. Sie fand die Einöde vor vielen Jahren im Keller ihres Elternhauses, in Gümligen, nicht unweit des Randes von Ostermundigen, dort, wo dieses gewisse Telefon steht, du weisst schon. Sie fand die Wüstenei, nachdem sie das Spielhaus gesehen hatte mit dir und dem René, der nichts sagte, während du den Schnurrepfloderi hattest.

Ihr hattet da eure eigene kleine Bude mit einem Sofa, und dieses Sofa war nicht nur ein Sofa, sondern manchmal auch ein Flugzeug, mit dem ihr vom Leutschenbach direkt nach Zentralchina geflogen seid, bis eben hinüber zur Wüste Gobi. Und meine Frau also, damals, als kleines Mädchen, dachte nun nicht, so ne Chabis, däm Hohler spinnts, sondern: Wenn das mit seinem Sofa funktioniert, warum sollte es also nicht auch mit der Bank funktionieren, die unten im Keller steht.

Und es funktionierte! Sie fand neben den Kartoffelhurden und den Wäscheleinen die Wüste Gobi, und wahrscheinlich noch einen Dschungel und ein Meer dazu, und dafür eben, hat sie mir aufgetragen, möchte sie sich herzlich bedanken.

Wer einen Preis vergibt, der gibt sich Preis.

Uebrigens … ihr beide, Rene und du, ihr hattet eine Filmkiste, in die ihr, wenn die Schoggistängeli verdrückt war und René das Stanniolpapier flach gerieben und in seine Sammlung eingereiht hatte, wenn es nichts mehr zu tun gab, in die ihr also eure Köpfe stecktet und immer nur euch selber fandet, in schwarzweiss, auf Abenteuersuche im schweizerischen Mittelland.
Auch dafür möchte ich dir danken. Dass du uns mit deinem Werk etwas geschenkt hast, etwas, wie diese Filmkiste, in deren Innern genau dieselbe Welt ist wie die da hier, mit denselben Bäumen, denselben Tieren, denselben Menschen, in der aber, plötzlich, durch unsere Fantasie, alles möglich, denk- und lebbar wird.

Ich möchte dir im Namen all jener danken, die, wie ich selbst, immer noch in dieser Kiste stecken und nicht gedenken, sie in ihrem Leben wieder zu verlassen. Davon scheint es gar nicht wenige zu geben, hier in diesem Saal und zu deinem und unserem Glück auch in jener famosen Stadt Zürich, die dir heute Abend ihren Preis vergibt.

Herzlich, Lukas Bärfuss