Kultur

Vor 5 Wochen hat die Seuche den Normalbetrieb zum Erliegen gebracht, und wir sitzen in unsern Häusern und zappen uns durch die unzähligen Videos mit Zimmerkonzerten, hausgemachten Comedyshows, Lesungen aus leeren Buchhandlungen, getrübt mit den neuesten Ansteckungszahlen, Todesfällen und Idiotien des amerikanischen Präsidenten, absolvieren ganze Festivals online, hätten mehr Zeit für Dinge, für die wir nie Zeit hatten, und sind doch seltsam antriebslos und dekonzentriert, und da erklingt auf einmal von einem der Dächer auf der gegenüberliegenden Strassenseite ein Saxofon, in das ein Schlagzeug einfällt und eine Gitarre einstimmt, und ein Jazzstück gesellt sich zum abendlichen Amselgesang. Applaus und zustimmende Rufe von den Nachbardächern zeigen, dass es gehört wird, die Balkone des Hochhauses auf der andern Seite der Kreuzung beleben sich, und nun ist die Luft erfüllt von Klängen, die nicht über irgendeinen Medienkanal gesendet werden, sondern die hier und jetzt von Menschen erzeugt werden, welche sich zusammenfinden, um dem verstörenden Zustand etwas entgegenzusetzen, eine Selbstverständlichkeit eigentlich, Musik, und wir wussten gar nicht mehr, wie schön das ist, wenn sie wirklich gespielt wird, und nun kommt noch ein Sänger dazu, wir kennen ihn, es ist der Afrikaner, der die Wäscherei im Nebenhaus führt, und seine Worte, die wir nicht verstehen, wecken unsere Herzen, die schon in Gefahr waren, zu erstarren, und wir winken ihm zu, wir winken dem Drummer zu, er unterhält sonst einen Elektronikladen im Parterre des Hauses, wir winken seinen Musikanten zu und auch den Menschen auf den Hochhausbalkonen, die wir nicht kennen, und sie winken zurück, und wir alle balancieren auf den Tönen wie Seiltänzer auf einem grossen, feinen Netz, das gerade gesponnen wird und das einen Namen trägt, den wir schon etwas vergessen haben, Nachbarschaft.

aus NZZ online, 30.April 2020